Nachruf

Die Welt ist ein Schweinestall   oder

Nachruf auf einen “Ersatz - Onkel”

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Die Welt ist ein Schweinestall und in einem solchen findet man sich nur zurecht,
wenn man selbst ein Schwein ist. Keine Angst, das ist nicht etwa meine neue
Lebensformel, es war die Grundregel eines alten Bekannten von mir, der vor
wenigen Jahren gestorben ist. Einer von der alten Garde, wie ich diese
Bekannten aus einer früheren Zeit gerne nenne. Wissen sie, das geht noch alles
auf einen früheren Lebensabschnitt von mir zurück, der mir heute zuweilen so
vorkommt, als würde ich ein ganz anderes Leben betrachten, das Leben einer
anderen Person, obwohl es in meine eigene Vergangenheit greift. Der Tod bringt
in einem immer wieder Gedanken an alte Zeiten und zugleich alte Bilder mit
hoch, sowie dabei besonders alte Zitate, die ein Verstorbener zeitlebens gerne
von sich gab. Diesen Mann, der oft umstritten war, kannte ich schon seit etwa
1965, er war bei uns öfters zu Besuch, wie eine Art Onkel. Damals lebte meine
Mutter noch und den eingangs erwähnten Satz mit dem Schweinestall sagte er
sehr oft, besonders früher. In seinen letzten Lebensjahren nicht mehr so häufig.
Allerdings trafen wir uns auch nur noch sehr selten. Früher sah ich den fast
täglich. Man kann nicht sagen, dass wir befreundet waren, ich wüsste nicht
einmal, wie man diese Art der Bekanntschaft genauer bezeichnen soll. Die
Ursprünge dieser Bekanntschaft zur Familie meiner Eltern lagen weit zurück,
noch aus Kriegszeiten, sogar noch vor meiner Zeit, so genau weiß ich das gar
nicht. Der hat sogar meinen Vater noch gekannt, den ich selbst ja praktisch
kaum kannte. Eine Zeitlang habe ich früher zu dem aufgeblickt, wie ein Kind
auf einen Onkel stolz ist, der es im Leben zu etwas gebracht hat. Sie kennen das
sicher, fast jedes Kind hatte früher so einen Onkel oder einen anderen
Verwandten, mit dem es gerne vor Schulkameraden prahlte, was der alles tolles
geleistet oder erlebt hätte, welche besonderen Fähigkeiten der hat oder wie reich
der sei. So ähnlich war meine Bekanntschaft zu dem früher, obwohl ich mit dem
nicht wirklich verwandt war. Der soll auch früher ziemlich rücksichtslos
gewesen sein, nicht zu meiner Mutter oder mir, aber zu manchen Menschen und
der obige Satz war wirklich damals so etwas wie seine goldene Lebensregel,
eine Art Leitmotiv.
Beruflich war er eigentlich gelernter Heizungsinstallateur und handwerklich
überaus geschickt, übte diesen Beruf jedoch schon seit Jahrzehnten nicht mehr
aus, sondern führte lange ein halbwegs verrufenes Lokal etwas außerhalb, am
Stadtrand. Eigentlich müsste man sagen, damals am Stadtrand, denn heute ist
dort alles bebaut und das Lokal längst abgerissen. Da pulsierte damals mal das
Nachtleben, was man sich an dieser Stelle heute nur noch schwerlich vorstellen
kann, da es in dem Bereich mittlerweile recht modern aber auch irgendwie sehr
langweilig zugeht. In dem damaligen Lokal begegnete man sich nicht gerade mit
Samthandschuhen. Da lungerten ständig Damen des horizontalen Gewerbes,
sowohl professionelle, als wie auch hobbymässige und eigenartige Typen
herum, denen man so ziemlich alles zutrauen konnte. Jemand der solch eine
Spelunke führt, muss sicherlich auch solche Ansichten und Lebenseinstellungen
haben, wie sie aus dem eingangs erwähnten Zitat hervor gehen, sonst bringt er
es nicht weit. Zu mir war er aber immer wie ein netter, durchaus bestimmender,
aber geradliniger Verwandter, eben wie der gute Onkel. Mit dem "bestimmend",
das ist unbedingt wörtlich zu nehmen, denn er hatte so eine Art an sich, überall
wo er auftauchte sämtliche Bestimmungsmacht an sich zu reißen. Dort, wo der
war, entschied nur einer und das war er. Er vermochte das ohne viel Worte auf
eine fast schon angenehme Art rüberzubringen, dass es von fast jedem
automatisch, ja fast schon freudig akzeptiert wurde. Das klingt sicherlich
verrückt, denn eigentlich geben die meisten Menschen nur ungerne Macht ab,
aber er hatte eine Ausstrahlung, die das automatisch veranlasste, ohne dass
überhaupt jemand auf die Idee kam, darüber zu diskutieren. Diskutiert
wurde bei ihm ohnehin nie, es sei denn, um seine Position zu unterstreichen. Es
ist auch eine Sache der Gestik und der Haltung, viel weniger von Worten.
Wissen Sie, wenn unsereins eine Idee hat, dann sagt er vielleicht, man könnte
dieses oder jenes so oder so mal probieren. Solche Sätze hätte man von dem nie
gehört, weil sie ja einen verdeckten Zweifel beinhalten, ob es so oder so klappt.
Er hätte kurz gesagt: "Wir machen das jetzt so!" Zweifel an seinen
Entscheidungen gab es generell nicht und wer dennoch welche äußerte, was aber
selten vorkam, wurde gleich mit einer immer logisch klingenden
Gegenbegründung abgewimmelt. Dazu benötigt man in jedem Fall eine gehörige
Portion sachkundiger Schlagfertigkeit, die in dieser ausgeprägten Form kaum
ein Mensch hat. Das setzt auch einen bestimmten Grad an hoher
Allgemeinbildung voraus, die ein sehr breites Spektrum abdeckt, wie man es bei
nur wenigen Leuten vorfindet. Er war zugleich jemand, zu dem man nahezu
sofort Vertrauen hat, weil er insgesamt kompetent wirkte. Man sagte sich gleich,
wenn der etwas in die Hand nimmt, dann klappt das auch, sonst würde er es erst
gar nicht machen. Wissen Sie, wenn dem etwas an jemandem nicht passte, dann
sagte er das sofort unverblümt und redete nicht um den heißen Brei, wie es
andere meistens tun. Damit macht man sich eigentlich schnell Feinde,
komischerweise schätzte ich ihn jedoch genau deswegen. Wenn ich
beispielsweise mittags Zwiebeln gegessen hatte und wir uns kurz danach trafen,
dann sagte der in barschem Ton: "Auwei, du stinkst aus dem Mund, wie eine
Kuh aus dem Arsch!" Das war gewiss kein feiner Ton, aber man wusste, es
stimmt. Andere drucksen dann herum und wenden sich von einem ab und man
weiß gar nicht warum und glaubt schon, man hätte einen gravierenden Fehler
gemacht. Der meinte das auch nicht böse, wenn er das in diesem Ton sagte.
Andererseits, zu dieser Zeit brauchte ich keinen Onkel mehr, zu dem man
aufblicken konnte, um 1965 herum war ich ja selbst schon 18 Jahre alt.
Trotzdem war ich irgendwie stolz darauf, den in meinem Bekanntenkreis zu
haben, weil der es so ziemlich als einziger aus unserem ganzen Bekanntenkreis
wirklich zu etwas gebracht hatte und weil der sich von keinem etwas vormachen
ließ. Dem hätte beispielsweise auch niemals ein Gebrauchtwagenhändler eine
Gurke angedreht, und wenn, dann hätte er sie wieder zurück genommen, sonst
hätte der dem täglich solange blaue Augen verpasst, bis er ihn zurück nimmt,
dafür war der sich nicht zu schade. Selbst vor Behörden oder der Polizei hatte
der keinen Funken Respekt, was 1965 noch wesentlich mehr hieß als heute, wo
Respektlosigkeit ja fast zum Standard gehört, und ich glaube, mir als damaligem
Jugendlichen imponierte das zu dieser Zeit besonders. Natürlich waren damals
auch noch andere Zeiten. Nun, ich will Ihnen hier gar nicht alles aus dieser doch
teils recht komischen Zeit erzählen, das könnte man auch gar nicht, denn dabei
käme ein mehrteiliger Buchband heraus, gegen den das Duden - Gesamtwerk ein
Taschenheft ist. Also jener Ersatzonkel, ich nenne den jetzt einfach mal so, war
vor ein paar Jahren plötzlich gestorben. Plötzlich und unerwartet, wie man so
sagt. Er war eigentlich nie krank, früher jedenfalls nicht. In den letzten 10 Jahren
hatte er wohl Diabetes, also Zuckerkrankheit, aber eher in geringem Maße, er
hatte damit nie ernsthafte Beschwerden, außer am Anfang, bis man seine
Medikamente im Krankenhaus richtig eingestellt hatte. Den Fritz, so nannten
wir den immer, kriegte eigentlich nichts klein und der war ein
Stehaufmännchen, wie es im Buche steht. Vom Erscheinungsbild her konnte
man den ziemlich gut mit dem damals berühmten Schlagersänger Freddy
vergleichen, der hätte ein Zwillingsbruder von dem sein können. Also eine eher
etwas kleine, aber kräftig-sportliche Gestalt. Auch vom Gesicht her sah er
diesem Freddy Quinn etwas ähnlich. Was der im Leben anpackte, das gelang
dem auch und wenn der mal richtig zupackte beim Arbeiten, da wurden Sachen
erledigt, dafür braucht man normalerweise 3 Leute. Der hatte damals eine
ungeheure Lebensenergie, das findet man in dieser Form nicht oft. Ich weiß
nicht, wie der das alles schaffte, ich weiß nur, dass der auch immer seine
eigenen Gesetze hatte. Die echten Gesetze, also die im Gesetzbuch,
interessierten den damals nur insoweit, wie sie sich geschickt umgehen ließen,
sofern es für seine Belange mehr Nutzen brachte. Wie gesagt, eine andere Zeit.
So schaffte er es damals, innerhalb weniger Jahre neben dieser einen Spelunke
weitere 4 Bars aufzukaufen, alle in oder im Umkreis von Stuttgart. Darunter war
dann sogar eine, die eher als Nobelschuppen galt und die eigentlich überhaupt
gar nicht zu seinem anderen Sortiment der Spelunken passte. Er fand aber
immer, dass gerade diese Mischung sehr gut zueinander passt. Er sagte mal, dass
die Abgründe bei diesen Nobelärschen, so bezeichnete er die, oftmals viel tiefer
lägen, als bei dem Dreckspack, welches sich in den anderen Läden traf. Vor
vielleicht 15 Jahren hat er dann in einer Nacht- und Nebelaktion alles verkauft
und sich von dem Geld zur Ruhe gesetzt. Ich weiß nicht, wie viel Geld er dafür
genau bekommen hat, aber es dürften schon Millionenbeträge gewesen sein.
Wissen Sie, die meisten, die solche Betriebe führen, protzen mit übermäßigem
Prunk, dicken Autos, zig konsumsüchtigen Weibern, einer Villa, Ferienhäusern,
einer Yacht und mindestens einer dicken Rolex - Uhr am Handgelenk, nicht so
der Fritz. Der war privat gut verheiratet mit einer netten, fleißigen Frau, die
lange Zeit Filialleiterin einer Bank war und lebte wohlhabend, aber dennoch
eher unscheinbar und zurückgezogen. Es war nie so, dass ich oder damals wir,
als meine Mutter noch lebte, wegen dieser guten Bekanntschaft von seinem so
erwirtschafteten Reichtum profitierten, denn auch da hatte der seine eigenen
Grundsätze. Der hatte vielleicht 1966 die besagte Frau geheiratet und aus der
Verbindung gingen später 2 nette Töchter hervor und in Geldangelegenheiten
hieß sein Grundsatz, dass nur seine engste Familie, also Frau und Kinder, davon
mit profitieren durften. Alles was im Verwandtheits- oder Bekanntheitsgrad
darüber hinaus ging, bekam nur dann etwas, wenn es dafür arbeitete. Wenn einer
bei ihm arbeitete zahlte er dafür auch durchaus gut, da ließ er sich nicht lumpen,
sofern man gut zupackte. Einzige Ausnahme war immer Weihnachten.
Weihnachten bekamen wir von dem immer wirklich gute Geschenke. Nicht zu
verwechseln mit wertvollen Geschenken, denn wertvoll waren die meist nicht,
aber es waren Dinge, die man damals gut gebrauchen konnte. Wissen Sie,
manche Leute schenken einem etwas, was vielleicht viel wert ist, womit man
aber eigentlich überhaupt nichts anfangen kann, bei dem war es genau
umgekehrt. Der hätte sich zwar teure Geschenke leisten können, aber
Weihnachten gab es immer etwas, meist im Wert zwischen 2 und allerhöchstens
10 Mark, worüber man sich aber wirklich echt freute, weil man es gebrauchen
konnte. Der hatte ein gutes Gespür dafür, was sinnvoll ist und was nicht. Wir
sahen uns in den letzten 8 Jahren vor seinem Tod nur noch sehr sporadisch, fast
gar nicht. Das Verhältnis war eben wie zu einem sehr weit entfernten
Verwandten. Er wohnte seit dem er diese Spelunken verkauft hatte in seinem
eigenen villenartigen, aber modernen Haus im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen.
Obwohl er Geld genug hatte, lebte er nicht im Überfluss. Sicher, er fuhr kein
billiges Auto, aber gemessen an dem, was möglich gewesen wäre, hielt er sich
eher vornehm zurück. Der fuhr einen vielleicht 5 Jahre alten Mercedes von der
sogenannten E - Klasse, obwohl er sich locker die S - Klasse und als
Zweitwagen einen Sportwagen hätte leisten können. Na immerhin hatte dieser
E-Klasse - Mercedes einen 3 Liter - Motor und ich hätte mir den Wagen ganz
gewiss nicht leisten können. Seine Frau fuhr dann auch noch einen eigenen
Wagen, aber nichts auffälliges, einen neuwertigen Ford - Minivan, so ähnlich
wie ein Kombi, nur etwas höher. Sein Ableben kam dann fast schon auf eine
kleinbürgerliche Art, wie man es ihm in den Sechziger Jahren niemals zugetraut
hätte. Es hieß, der sei an einem Samstag zu seiner ältesten Tochter gefahren, die
ein eigenes Haus auf dem Lande hat. Als er dort ankam, sei er noch frisch und
fröhlich aus dem Auto gestiegen und wollte im Haus der Tochter noch
handwerklich beim Ausbau des Dachgeschosses helfen. Für solche Arbeiten war
der sich selbst im Alter noch nicht zu schade, obwohl er genausogut hätte locker
einige gute Handwerker bestellen können, ohne dass es ihn finanziell
geschmerzt hätte. Dann habe er plötzlich gesagt, dass ihm etwas komisch würde,
ist dann zusammengesackt und der sofort herbeigerufene Notarzt habe dann nur
noch den Tod feststellen können. Ich könnte jetzt noch nicht einmal genau
sagen, wie alt der exakt war, aber ich schätze, ungefähr 75 Jahre.
Interessant finde ich die Frage, ob man im Nachhinein die Leute, an die man
sich aus der früheren Vergangenheit erinnert, ungewollt und automatisch
verklärt. Sicher hat der viel geleistet und ich sehe ihn in meiner
Rückbetrachtung immer als den positiven Macher und vor Energie sprühend,
aber wenn man mal ganz ehrlich ist, wird der in seinem Leben auch ganz schön
vielen Leuten heftig auf die Füße getreten haben, die den nicht gerade in ihr
Nachtgebet einschließen würden. Was natürlich nichts daran ändert, dass in
meinen Augen immer ein guter Schuss Bewunderung für den Fritz erhalten
bleibt. Ich sage es da in seinem Andenken ganz offen und ehrlich, ich hätte das
alles gar nicht wie er schaffen können, dafür fehlte mir eh und je der genügende
Elan, die Energie und dafür war ich immer einige Nummern zu träge. Keiner
kommt halt so ganz aus seiner eigenen Haut raus. So sehe ich das hier als einen
kleinen Nachruf, verbunden mit einem Schuß Rückbesinnung an eine
gemeinsame Zeit, die ich nicht missen möchte.